Nach dem Mauerfall hat Deutschland Juden und Jüdinnen aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion die Umsiedlung ermöglicht, um jüdisches Leben in Deutschland wiederaufzubauen. Unsere Tagung hatte das Ziel, wissenschaftliche Erkenntnisse einem breiten Publikum zugänglich machen, um ein tieferes Verständnis für das heutige jüdische Leben in Deutschland zu schaffen.
Mit der Einwanderung jüdischer Kontingentflüchtlinge nach Deutschland schließt sich ein Kreis: Sie kamen zurück in die deutschsprachigen Regionen, aus denen viele ihrer Vorfahren vor langer Zeit während und nach den Pogromen der Kreuzzüge und der großen Pest geflohen und ausgewandert waren.
„Aschkenas“ steht bei den jüdischen Gelehrten des Hochmittelalters für die deutschen Lande, dem ersten Siedlungsgebiet von Juden in Nordwesteuropa, zwischen Köln, Metz und Regensburg, vor allem an den Ufern des Rheins. Im Laufe von Jahrhunderten, die oft von Verfolgung und Vertreibung geprägt waren, siedelte sich die Mehrheit der aschkenasischen Juden und Jüdinnen in Osteuropa an. Dort wurden sie im 20. Jahrhundert zum großen Teil im Zuge der Shoah von Deutschen ermordet.
Im Rahmen der Tagung blickten wir zurück auf die lange und komplexe Geschichte von Aschkenas: Auch die hier zu Lande wenig bekannten historischen Zusammenhänge wie die antijüdische Repression im Zarenreich und später der Sowjetunion, sowie kulturelle und sprachliche Verbindungen zu Deutschland konnten auf der Veranstaltung gemeinsam entdeckt werden.
Beide Aspekte wurden gemeinsam mit der Erinnerung und Einordnung der Aufnahme der rund 200.000 Jüdinnen und Juden seit 1991 aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion einem breiten Publikum nahegebracht.
Im Gegensatz zu den „russlanddeutschen“ Spätaussiedler:innen wurde den sogenannten Kontingentflüchtlingen keine Staatsangehörigkeit gewährt. Die Beiträge der Tagung und nicht zuletzt die Podiumsdiskussionen hinterfragten diese folgenschwere Ungleichbehandlung in Bezug auf Chancen auf dem Arbeitsmarkt, sowie in der Sozial- und Rentenversicherung und gaben Impulse für die Diskussion aus historischer Perspektive, die für eine Neubewertung grundlegend sind.
Zudem galt es, die Geschichte des aschkenasischen Judentums auch als ein Teil der deutschen Kulturgeschichte wiederzuentdecken, ohne sie für Deutschland zu vereinnahmen.
Sonntag, 29. Mai 2022
ab 08:30
Einlass
09:00 – 09:20
Einführung & Begrüßung
Volker Beck (Tikvah Institut)
Dr. Ellen Ueberschär (Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung)
09:20 – 09:45
„A Mensch“- Herausforderungen und Entwicklungsprozesse russisch sprachiger jüdischer Migration nach Deutschland nach der Perestroika
Prof. Dr. Julia Bernstein (Professorin für Diskriminierung und Inklusion in der Einwanderungsgesellschaft, Frankfurt University of Applied Sciences) [via Zoom]
Session I: „Gomer ist Carmania“ – Die Wiege des Aschkenasischen Judentums am Rhein
09:45 – 10:30
Was war dieses Aschkenas? –
Die Ursprünge des aschkenasischen Judentums
Prof. Dr. Micha Brumlik (Senior Research
Fellow am Selma Stern Zentrum, Humboldt Universität zu Berlin)
10:30 – 11:15
Geschichten aus Jerusalem am Rhein
Prof. Dr. em. Karl E. Grözinger (Institut für Religions-wissenschaft und Institut für Jüdische Studien, Universität Potsdam und Vorstandsvorsitzender Ephraim-Veitel-Stiftung)
11:15 – 11:30
Kaffeepause
Session II: Flucht, Vertreibung, Emigration
11:30 – 12:15
Verfolgung – Vertreibung – Flucht? Zu den Anfängen der aschkenasischen Diaspora in Osteuropa
Dr. Christoph Cluse (Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arye Maimon-Institut für Geschichte der Juden, Universität Trier)
12:15 – 13:00
Das Statut von Kalisch (1264) und die Aufnahme der aschkenasischen Juden in Polen-Litauen
Prof. Dr. Jürgen Heyde (Leibniz Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europas, Universität Leipzig)
13:00 – 14:00
Mittagspause
Session III: Judentum, Deutschland und der europäische Raum: Die transnationalen Verflechtungen der aschkenasischen Kultur
14:00 – 14:45
Jüdisches Kommen, Gehen und Wiederkehren in Aschkenas: Menschen, Kultur und Traditionen
Prof. Dr. em. Karl E. Grözinger (Institut für Religions-wissenschaft und Institut für Jüdische Studien, Universität Potsdam und Vorstandsvorsitzender Ephraim-Veitel-Stiftung)
14:45 – 15:30
Juden im Habsburgerreich 1780–1810: Reformabsolutistische Politik und lebensweltlicher Widerstand
Dr. Dirk Sadowski (Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Institut für Bildungsmedien, Georg-Eckert-Institut)
14:45 – 15:30
Der „Jüdische Ansiedlungsrayon“ im imperialen Russland: Rechtsnorm, Narrativ und Lebenswelt
Prof. Dr. Yvonne Kleinmann (Professorin für Osteuropäische Geschichte, Direktorin des Aleksander-Brückner-Zentrums für Polenstudien, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg)
16:15 – 16:45
Kaffeepause
Session IV: Zwischen Anerkennung und Verfolgung: Jüdinnen und Juden in der Sowjetunion
16:45 – 17:30
Vier Phasen der sowjetischen Nationalitätenpolitik gegenüber der jüdischen Bevölkerung (1917–1952)
Jakob Stürmann (Wissenschaftlicher Mitarbeiter,
Leibniz-Institut für jüdische Geschichte und Kultur, Simon Dubnow)
17:30 – 18:30
Die Rückkehr des Jiddischen nach Deutschland – eine musikalische Reise
Daniel Kempin (Kantor des Egalitären Minjan der Jüdischen Gemeinde Frankfurt a. Main)
18:30 – 18:45
Anmerkungen: Auswirkungen und Erwartungen nach 30 Jahren jüdischer Zuwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland
Dr. Felix Klein (Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus)
18:45
Empfang
Montag, 30. Mai 2022
ab 08:30
Einlass
09:00
Begrüßung
Deidre Berger (Projektleiterin, Tikvah Institut)
09:00 – 09:45
Über Juden und Antisemitismus im Zarenreich, der Sowjetunion und der Internationale – Thesen eines Kommunismusforschers
Dr. Gerd Koenen (Historiker, Schriftsteller, Publizist) [via Zoom]
09:45 – 10:30
The Holocaust in the Soviet Union and Phases in its Commemoration Policies
Prof. Dr. Ilya Altman (Professor der Russian State University for the Humanities Moskau, Direktor des International Center for the History of the Holocaust and Genocides, Co-Vorsitzender des Russian Research and Educational Holocaust Center Moskau)
10:30 – 10:45
Kaffeepause
10:45 – 11:30
„Brombergs Violine“ – Opfer der antisemitischen Kampagnen in der Sowjetunion
Dr. Irina Scherbakowa (Memorial International) [via Zoom]
11:30 – 12:15
The Rise and Evolution of the Jewish National Movement in the USSR and Official Responses
Prof. Dr. em. Zvi Gitelman (Professor Emeritus of Political Science and Judaic Studies, University of Michigan)
12:15 – 13:15
Mittagspause
Session V: Rückkehr – Die jüdische Einwandung ins Nachkriegs-Deutschland
13:15 – 14:00
Paradoxes and Ironies: Reconstructing Jewish Life Amidst Mass Emigration
Prof. Dr. em. Zvi Gitelman (Professor Emeritus of Political Science and Judaic Studies, University of Michigan)
14:00 – 14:45
Motive, Annahmen und Voraussetzungen zur Aufnahme jüdischer Kontingentflüchtlinge: Aufnahmediskussionen von 1989/90 bis in die Gegenwart
Volker Beck (Tikvah Institut)
14:45 – 15:15
Kaffeepause
Panels & Diskussionen
15:15 –
16:15
Panel 1: Die Aufnahmediskussionen in Ost- und Westdeutschland – Akteur:innen und Zeitzeugen
- Moderation Benjamin Fischer (Alfred-Landecker-Stiftung, ehem. Präsident der European Union of Jewish Students, Gründungspräsident der jüdischen Studierendenunion Deutschland)
- Micha Guttman (Publizist & Rechtsanwalt, ehem. Generalsekretär Zentralrat der Juden)
- Wolfgang Templin (Publizist & Bürgerrechtler, Mitbegründer von Bündnis 90)
- Anetta Kahane (Publizistin, Gründerin und ehem. Vorstandsvorsitzende der Amadeu Antonio Stiftung)
- Dr. Peter Fischer (Vormals Sekretär des Verbandes der Jüdischen Gemeinden in der DDR, ehem. Leiter des Berliner Büros des Zentralrats der Juden)
16:15 – 17:15
Panel 2: Ausgerechnet Deutschland?!
- Moderation Dalia Wisgott-Moneta (Pädagogin, Familientherapeutin, Publizistin)
- Dr. Anastassia Pletoukhina (Senior Representative der Jewish Agency for Israel in Berlin)
- Alina Fejgin (Sozialreferentin des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Niedersachsen K.d.ö.R., Leiterin des Sozialreferates der Jüdischen Gemeinde Hannover K.d.ö.R.)
- Lars Umanski (Vizepräsident der jüdischen Studierendenunion Deutschland)
- Arkadij Khaet (Autor und Regisseur)
17:15 – 17:30
Input: Deutsche Bestrebungen und Erwartungen an die russischsprachigen jüdischen Einwander:innen
Dr. Sergey Lagodinsky (MdEP, Die Grünen/EFA)
17:30 – 18:30
Panel 3: Öffentliche Diskussion mit Gästen aus Politik und Gesellschaft
- Moderation Frederik Schindler (Redaktion DIE WELT)
- Petra Pau (Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags, Die Linke)
- Marlene Schönberger (MdB, Bündnis 90/Die Grünen)
- Frank Müller-Rosentritt (MdB, FDP)
- Helge Lindh (MdB, SPD)
18:30
Empfang