Team
- Studienleitung: Prof. Dr. Julia Bernstein
- wissenschaftlicher Mitarbeiter: Grigori Khislavski
Thema
Der Krieg Russlands gegen die Ukraine erfolgt im wechselseitigen Deutungsrahmen der nationalsozialistischen Vergangenheit. Russland rechtfertigt den Angriffskrieg vor dem Hintergrund einer imaginierten neonazistischen Herrschaftsformation in der Ukraine und zielt auf eine „Entnazifizierung“, die Ukraine sieht sich nach der nazideutschen Aggression im Zweiten Weltkrieg einer russisch-imperialistischen ausgesetzt. Auch in Deutschland bringt der Krieg die Echos der Nazizeit an die Oberfläche öffentlicher Auseinandersetzungen, indem u.a. die familienbiografisch konturierte kollektive Identität zur Grundlage einer Werteorientierung gemacht wird, mit der wahlweise wegen der deutschen Geschichte für oder gegen Waffenlieferungen an die Ukraine plädiert wird.1
Die Solidaritätsbekundungen mit der Ukraine stehen spiegelbildlich zur Ächtung russischer Aggression, die mitunter im historischen Kontext des nationalsozialistischen Kampfes gegen die Sowjetunion gründende Schablonen und Ressentiments aktivieren.
Das stellt den politischen Rahmen und die gesellschaftliche Kulisse dar, in der Jüdinnen und Juden in Deutschland mit einem Szenario konfrontiert sind, in dem aktuelle Kriegsverhältnisse mit den Echos der Nazizeit amalgamieren. Mehr noch, 90 Prozent der in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden sind russischsprachig, sie selbst oder ihre Eltern sind als sogenannte Kontingentflüchtlinge in der 1990er-Jahren aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland eingewandert (insgesamt ca. 220.00). Russischsprachige Jüdinnen und Juden blicken aus der deutschen Aufnahmegesellschaft auf den Krieg Russlands gegen die Ukraine, der ihre Herkunftsgesellschaften wie sie sie kannten zum erodieren bringt. Mit dem Stand von Juni 2023 sind mehr als 1.000.000 ukrainische Staatsbürger wegen des Kriegs nach Deutschland geflohen, darunter zahlreiche Jüdinnen und Juden. Sie finden im Land der Täter/ der Shoah Zuflucht vor dem Kriegsgeschehen.
Wie nehmen russischsprachige Jüdinnen und Juden (sowohl Migranten als auch Flüchtlinge) in diesem Zusammenhang Deutschland als Aufnahme- und Russland bzw. die Ukraine als Herkunftsgesellschaft wahr?
Diese Ausgangsfrage zielt darauf ab, wie auf die Geschichte (Nationalsozialismus und Shoah) und die Gegenwart (Antisemitismus) geblickt wird und wie sich dieser Blick angesichts der Kriegsverhältnisse verändert hat. Von zentraler Bedeutung ist dabei „Zuhause“ als Alltagskategorie im Wandel des politischen Zeitgeschehens, die neben Identitätsentwürfen auch Bin- dungen zu Aufnahme- und Herkunftsgesellschaft, sowie damit verbundenen gesellschaftlichen Partizipationsbestrebungen und Zukunftsvisionen konfiguriert.
Forschungsfragen
An diese Ausgangsfrage sind folgende Forschungsfragen gekoppelt:
- Wie wirkt sich der Krieg Russlands gegen die Ukraine auf russischsprachige Juden in Deutschland (Migranten und Flüchtlinge) und ihrem Verständnis von dem Zuhause aus?
- Wie wird das Verhältnis vom Krieg in der Herkunfts- zu Antisemitismuserfahrungen in der Aufnahmegesellschaft bestimmt?
- Inwieweit nehmen Jüdinnen und Juden in Deutschland erinnerungs- und schuldabwehrende Narrative zur Deutung des Kriegsgeschehens wahr?
Exemplarisch dafür Harald Welzer bei Anne Will gegenüber Andrij Melnyk („„Wir sprechen als Mitglieder dieser Gesellschaft vor dem Hintergrund einer Kriegserfahrung, die durch die Generationen durchgezogen hat, und da ist möglicherweise in jeder Familie derjenigen der 45 Prozent gegen die Lieferung eine ganz präsente Kriegserfahrung in der Familie selber drin“) und Jürgen Trittin („Jetzt erleben wir die Rückkehr des imperialen Eroberungskrieges. Und der ähnelt in vielen Orten dem Vernichtungskrieg von SS und Wehrmacht gegen die Sowjetunion“ / Nach „80 Jahren [kehre] etwas zurück, [und das] ausgerechnet zwischen zwei Ländern, die Opfer meiner Vätergeneration geworden sind“ /„Mein Vater war nicht einfacher Kriegsgefangener, sondern verurteilter Straftäter, weil er Mitglied der SS war.“ / „„Der Vater habe ihm aufgetragen, dass sich solche Verbrechen nie wiederholen dürften. Ihn habe das politisch angetrieben, fügte Tritin hinzu“.)